Neu Stadtschrift zum Krekel vorgestellt – Anrührende Buchvorstellung zur fast vergessenen Siedlung
Neu Stadtschrift zum Krekel vorgestellt – Anrührende Buchvorstellung zur fast vergessenen Siedlung

Neu Stadtschrift zum Krekel vorgestellt – Anrührende Buchvorstellung zur fast vergessenen Siedlung

Bildunterschrift:
Die Autor*innen (v. l.) Christina Hey, Hartmut Möller und Ursula Mannschitz im Gespräch mit Projekt- und Stadtschriftenleiterin Sabine Preisler. Im Vordergrund das druckfrische Buch über das Leben in der ehemaligen Siedlung am Krekel.

(PM) Es ist ein ungewöhnliches Buch und Projekt, das die Erinnerungen an ein fast vergessenes Stadtquartier wachruft, den Krekel ins Rathaus holt und dabei für kulturelle Teilhabe steht. Über 150 Menschen kamen zu einer oft berührenden Vorstellung der neuen Stadtschrift „Erinnerungen an einen vergangenen Ort. Die Siedlung am Krekel in Marburg“ in den Historischen Rathaussaal. Und der Erfolg spricht für sich. Denn nachdem die erste Auflage der Stadtschriften in nur einer Woche verkauft wurde, heißt die gute Nachricht: Ab Ende Januar wird bereits die zweite Auflage des Bestsellers im Buchhandel verfügbar sein.

Die Besucher*innen im Rathaus, darunter auch viele ehemalige Bewohner*innen der Siedlung – „Krekeljaner*innen“, Wegbegleiter*innen und unterschiedlichste Interessierte aus der ganzen Stadtöffentlichkeit erlebten moderiert von Projekt- und Stadtschriftenleiterin Sabine Preisler und mit den Autor*innen Christina Hey, Ursula Mannschitz und Hartmut Möller in Reden, Interviews und Dokumenten wie Stadtgeschichte mit Beteiligung wieder lebendig wird.

Großer Erfolg: Menschen stehen sogar in den Gängen

Es war wie ein riesiges Familienfest, bei dem sich ein facettenreiches Bild des einstigen Quartiers aufblätterte: „Dass wir überhaupt sagen müssen, ‚Der Krekel kommt ins Rathaus‘, und dass es nicht selbstverständlich war, dass alle Marburger*innen ihren Platz in der Mitte dieser Stadt haben und nicht an den Rand gestellt werden: Das hat das Buch von Christina Hey, Ursula Mannschitz und Hartmut Möller besonders nötig und dringlich gemacht“, betonte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. Zwischen 1930 und 1973 waren in der Siedlung am Krekel in einfachsten Unterkünften Marburger*innen untergebracht worden, die ihre Wohnung verloren hatten. Spies hob für die zentrale Verantwortung der Stadt für bezahlbaren Wohnraum für alle Menschen in Marburg hervor, die im späteren Verlauf des Nachmittags auch Thema eines Ausblickes wurde. 

Bereits Ende Januar ist zweite Auflage verfügbar

„Die Autor*innen haben durch viel Engagement und Feingefühl, durch viel Zeit und Arbeit ein Stück Stadtgeschichte erweckt, an das wir uns unbedingt erinnern sollten“, so Marburgs Oberbürgermeister vor den vielen Menschen im Rathaus, die teilweise sogar im Gang standen, um Teil dieses Ereignisses zu sein. Die erlebten, wie sich vor allem auch in Gesprächsrunden der Veranstaltung der Krekel wieder lebendig zeigte – zum Beispiel mit den Rückblicken der früheren Bewohner*innen Lieselotte Rabe, Volker Kuhl und Margret Diels, die persönlich und anrührend von ihrem Leben erzählten. Aber auch im Interview mit Zeitzeug*innen der Sozialen Arbeit am Krekel, die einst am Krekel begonnen hatte. So waren 50 Jahre nach dem Abriss Emil Weichlein und Fridolin Reutti extra für die Buchvorstellung nach Marburg gekommen, um vom Beginn ihres ehrenamtlichen Engagements als Studierende in den 60er Jahren am Krekel zu berichten. Ein Wiedersehen und spannende Einblicke gab es auch mit Brigitte Götz (Spielstubenleiterin am Krekel) und mit Margarete Bürger, die für den dort entstehenden Arbeitskreis Notunterkünfte die erste Sozialarbeiterin am Krekel war.

Platz für spannende Einblicke und anrührende Erinnerung

„Wenn man durch das Buch blättert und in den Geschichten liest, was Menschen vom Krekel von ihrem Alltag erzählen, dann liest man von den Beschwernissen des Lebens. Und auch von der Haltung, die andere damals gegenüber den Krekeljaner*innen einnahmen“, fügte OB Spies hinzu. Er selbst erinnere sich, als Kind diese Diskriminierung und Ausgrenzung von den Bewohner*innen mitbekommen und den Ort als fast „verboten“ wahrgenommen zu haben.

Als die Siedlung am Krekel im Jahr 1930 gebaut wurde, war die NSDAP schon die stärkste Partei in der Stadt – verschiedenste Bürger*innen, auch Studierende, schlugen sich auf die Seite dieser Partei, blickte auch OB Spies zurück. „Man darf nicht vergessen, dass es hier eine Zeit gab, in der Menschen nicht nur aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder ihres Glaubens, sondern auch aufgrund ihrer sozialen Möglichkeiten ausgegrenzt worden sind.“ Wo heute am Krekel der städtische Bauhof ist, standen einst die Steinbaracken für Menschen, die sonst keine Wohnung fanden.

„Es waren auch Krekeljaner*innen, die bei der Saalschlacht im Gasthof Ruppersberg 1931 eine nationalsozialistische Versammlung verhindern wollten. Menschen, die dort für eine fairere Zukunft einstanden“, erinnerte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies und fasste das Buch ganz entschieden zusammen mit den Worten: „Am Ende ist es ein Buch von Zusammenhalt und Freundschaft. Ein Buch darüber, wie Menschen füreinander einstehen.“

Und genau deshalb sei es so wichtig, den Krekel heute und immer in die Mitte der Stadt zu holen, „genau hier ins Rathaus“. Er wandte sich mit dankenden Worten an die drei Autor*innen Christina Hey, Ursula Mannschitz und Hartmut Möller: „Sie werfen mit langjähriger Erfahrung und Engagement einen empathischen Blick auf das Leben in der einstigen Siedlung und sensibilisieren uns zugleich für die Frage der Teilhabe und der sozialen Gerechtigkeit. Das verdient ganz besondere Anerkennung.“

Die Autor*innen haben für das mehr als 300 Seiten starke Buch mit über 200 historischen Fotos und Dokumenten vom Krekel eben nicht nur in vielen Archiven geforscht und interessante neue Quellen aufgetan, sondern ebenso mit ehemaligen Bewohner*innen sowie mit Engagierten aus der Zeit der 60er und 70er Jahre gesprochen, die kamen, um die Krekeljaner*innen zu stärken, zu begleiten, die Kinder, die Jugendlichen und die Erwachsenen. Im Historischen Rathaussaal sagte Christina Hey: „Mir war es total wichtig, ein Buch gemeinsam mit vielen Menschen zu schreiben. Und diese Beteiligung so vieler hat mir große Freude bereitet und mich immer wieder angetrieben weiterzumachen.“ Sie sei nicht gerade internet-affin, habe sich aber 2021 durchgerungen und eine Facebook-Gruppe zum Krekel ins Leben gerufen. „Nach kürzester Zeit hatte diese Gruppe schon 200 Mitglieder, die Fotos von damals ausgetauscht haben“, erzählte Hey und Hartmut Möller ergänzte: „Es war sehr bewegend zu sehen, wie gerne Menschen dort ihre Erinnerungen geteilt und sich an den Beiträgen der anderen erfreut haben.“

Erzählt wird im Buch von den Schwierigkeiten und Herausforderungen eines Lebens auf engstem Raum. Aber auch von Kindheit und Alltag, von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und vom Zusammenhalt sowie vom Beginn jener Gemeinwesen- und Stadtteilsozialarbeit, die Marburg bis heute stark macht.

Am Krekel wurden Marburger*innen ursprünglich nur als Übergangslösung untergebracht, aber sie leben dort oft über viele Generationen. „Die Steinbaracken boten Menschen eine Heimat, die ihre Wohnung verloren hatten oder in Marburg Obdach suchten“, so Hey, Mannschitz und Möller, die sich auch der Frage des Bedarfs an bezahlbarem Wohnraum und den schwierigen Wohnverhältnissen am Krekel widmen. Und auch mit der Frage, wie mit Menschen in Not umgegangen wird. Küche, Wohnraum und Schlafzimmer in einem auf 12,5 Quadratmetern – das hatten oft Familien mit Kindern am Krekel zu bewältigen. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist „Gemeinschaft“, die den Krekel ausgemacht habe, ein wesentlicher Punkt, der in den Rückblicken immer wieder auftaucht.

Der ehemalige Krekeljaner Volker Kuhl etwa sagte im Gespräch mit Lieselotte Rabe, Margret Diels und Ursula Mannschitz: „Wenn der Krekel heute wieder aufgebaut würde, dann wäre ich einer der ersten, der da wieder hinziehen würde.“ Als Mannschitz mit einem „Warum?“ einhakte, betonte er: „Es war einfach schön. Für uns Kinder war es die reinste Freiheit.“ Und Margret Diels wandte sich an die drei Autor*innen: „Einen ganz herzlichen Dank an euch, die ihr mit so viel Gefühl und Rücksichtnahme mit uns in diesem Projekt zusammengearbeitet habt.“

OB Spies hatte es so formuliert: „Es ist den vielen Menschen vom Krekel, ihren Kindern und Kindeskindern sowie ihrer Offenheit, ihrem Mut zu verdanken, dass sie uns mit eigenen Worten an ihren Erinnerungen und damit an einem Stück vergessener Stadtgeschichte teilhaben lassen.“ Denn ganz bewusst stelle das neue Buch in der Reihe der Stadtschriften die Frage: Von wem wird unsere Geschichte eigentlich erzählt?

Das macht die neue Stadtschrift auch in ihrer vielfältigen Gestaltung deutlich. Denn neben über 20 Kapiteln mit Themen vom „Aufwachsen am Krekel“ über „Weshalb es so schwierig mit der Wohnung war“ oder „Den Lebensunterhalt sichern“ bis zur „Sozialen Arbeit am Krekel“ lebt das Buch immer wieder von Original-Zitaten, die sich mit dem Badespaß der Krekel-Kinder in der Lahn und Festen genauso beschäftigen wie mit Geschichtsaufarbeitung und Vorurteilen zum Krekel. „Man sagte halt, Krekel. Und dann meinte man, man wüsste Bescheid. Aber eigentlich wusste man nichts“, so zitiert die Stadtschrift Walter Zühlke, der sich einst am Krekel engagierte.

Die neue Stadtschrift wird von der Stadt zusammen mit der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft GeWoBau herausgegeben und beschäftigt sich mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft auch mit den Themen Wohnungsnot und Perspektiven sowie als Ausblick mit neuen Modellen für obdachlose Menschen in der Stadt Marburg. „Denn bezahlbarer Wohnraum bleibt die größte soziale Frage unserer Zeit“, sagte Jürgen Rausch, Geschäftsführer der GeWoBau. „In unserer Universitätsstadt gibt es viel zu sehen, was ein Bewusstsein für Geschichte wachruft. Am Krekel aber ist heute nichts mehr zu sehen. Umso wichtiger ist dieses Buch und allen, die daran beteiligt waren: Einen großen Dank!“, schloss Rausch seine Rede.

In einer Abschlussrunde fragte Stadtschriftenleiterin Sabine Preisler die Autor*innen: „Was war für Sie eine Herzensangelegenheit bei diesem Prozess?“ Und Christina Hey war sich sofort sicher: „Die Begegnungen und Zusammenarbeit mit den vielen Menschen, die uns und die wir in diesem Projekt begleitet haben.“ Und Hartmut Möller fasste für sich zusammen: „Es bleibt der solidarische Gedanke, füreinander einzustehen.“

Die Marburger Stadtschrift zur Geschichte und Kultur, Band 118, mit Hardcover, Lesebändchen sowie weiterführenden QR-Codes ist bereits ab Ende Januar für zwölf Euro wieder im Buchhandel erhältlich und dort bereits vorbestellbar. Ein Video zum Projekt findet sich online auf www.marburg.de/stadtschriften.